Technologie-Transfer: Emanzipation statt Import

Der Transfer von Technologien für Entwicklungshilfe-Projekte verläuft zu einseitig. Das kritisierten Teilnehmer auf der Fachkonferenz ICTD2010.

Von Anja Krieger und Stefanie Otto

Wie können Informations- und Kommunikations-Technologien ärmeren Regionen helfen? Wie lässt sich die digitale Kluft überbrücken? Um diese Fragen ging es Mitte Dezember bei der Fachkonferenz ICTD in London. Dabei wurde deutlich: Entwicklungszusammenarbeit muss endlich auf Augenhöhe stattfinden – auch im Bereich neue Technologien. Viele Hilfsprojekte versagen, weil nicht verstanden wird, was die Menschen vor Ort wirklich brauchen. In ärmeren Ländern entstehen dabei mehr und mehr eigene Lösungen – mitunter so innovativ, dass sie weltweit erfolgreich sind.

Meist läuft die Sache so: „Jemand aus dem Westen kommt mit einer schlauen Idee und denkt, das sei die eine Idee, die Afrika retten wird.“ Der Sarkasmus in Shikoh Gitaus Stimme ist unüberhörbar. Gerade hat die junge Kenianerin in Kapstadt ihr PhD in Informatik abgeschlossen. Das Thema: Wie verschafft man Menschen, die nicht gut schreiben und lesen können, Zugang zu wichtigen Informationen? Shiko Gitau setzt große Hoffnung in den Einsatz neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, die „ICT“s.

Ihr Anliegen teilen die rund fünfhundert Forscher und Praktiker, die Mitte Dezember 2010 auf der Konferenz ICTD in London zusammengekommen sind. „Information and Communication Technologies and Development“ ist das Label dieser internationalen Forschungs-Community.

Rücksicht auf das, was vor Ort ist

Gerade hat Shiko Gitau im großen Saal der Royal Holloway-Universität einen Vortrag gehalten. Dort fordert sie: Afrikaner müssen endlich selbst gehört werden, wenn es um die technologische Entwicklungsarbeit in ihren Ländern geht. Sie hat sich genau angeschaut, welchen Anteil afrikanische Wissenschaftler an Publikationen zum Thema ICTD haben. Das Fazit: „Die Geschichten werden meist von Gelehrten aus dem Westen erzählt“.

Das Ungleichgewicht setzt sich in der praktischen Entwicklungsarbeit fort. Dort dominieren Ansätze aus dem Westen, sagt Gitau. „Unser eigenes, indigenes Wissen bleibt unbeachtet. Als Afrikaner verstehen wir die Dinge anders. Das kann für unsere eigene Entwicklung fruchtbar gemacht werden.“

Ein einseitiger Technologie-Transfer von ‘Nord’ nach ‘Süd’ scheint der nachhaltigen Entwicklung selten zu nutzen. Das belegen auch Projekte in Zentral- und Südamerika. Eduardo Villanueva, Professor für neue Kommunikationstechnologien an der Pontificia Universidad Católica del Perú in Lima, hat die einzige nicht-englischsprachige Veranstaltung auf der ICTD2010 organisiert. Auf Spanisch und Portugiesisch wird diskutiert, was man aus den Erfahrungen mit der Einführung neuer Technologien in Lateinamerika lernen kann.

Hardware ist nur der Anfang

„Zunächst einmal: Nicht enthusiastisch werden, nur weil man Geld hat“, sagt Villanueva. Wer viel Geld habe, decke sich typischerweise mit Hardware ein, und vergesse über die sichtbare Investition das, was man nicht sehen kann. „Man kann keine Plakette an der Wand befestigen, die sagt: ‘Hier haben wir die Fähigkeiten von 50 Personen.’ Dagegen kann man sehr gut sagen: ‘Hier gibt es 50 Computer.’“

Schon manches Projekt, das vor allem auf Hardware baute, sei gescheitert, berichtet Villanueva. So wurden in Peru die Geräte des OLPC(One Laptop Per Child)-Projekts zwar zur Verfügung gestellt. Da aber die Lehrer in den Schulen nicht in der Lage waren, den Schülern die nötige Medienkompetenz zu vermitteln, hatte das Projekt am Ende kaum Erfolg, sagt Villanueva. Seine Argumente gegen OLPC hat er bis 2007 in seinem Blog “Adversus OLPC” zusammen getragen.

„Man muss bedenken, wie die Menschen lernen. Außerdem muss es Eliten geben, die wissen, was man mit der Technologie machen kann“, fasst Villanueva zusammen. „Die große Frage ist: Inwieweit verbessern diese Technologien die Lebensqualität der Leute wirklich – oder auch nicht?“ Oft erwiesen sich, erklärt Villanueva, große und ambitionierte Projekte als zu kompliziert. Erfolgreich seien eher die kleinen, die speziell auf die Bedürfnisse einer ganz bestimmten Gruppe zugeschnitten sind.

Partizipation statt Import

Für Villanueva ist das Sistema de información agraria de Huaral im Norte Chico von Peru ein solches kleines, aber wegweisendes Projekt. Rund 80 Kilometer nördlich von Lima werden im Valle de Huaral Früchte und Gemüse angebaut. Auch ein Großteil des Fleisches, das in der Hauptstadt verzehrt wird, kommt von hier. Über das neue Informationssystem können Bauern ihr Wissen teilen, sich über Preise und Anbau austauschen oder den Umgang mit der Ressource Wasser koordinieren. „Das Beispiel zeigt: Es ist die Gemeinde selbst, die die besten Bedingungen schafft, damit solche Projekte funktionieren“, sagt Villanueva.

Die Partizipation der Menschen vor Ort ist auch bei Insightshare entscheidend. Ziel des Projektes ist, denen eine Stimme geben, die sonst im globalen Diskurs kaum mitreden – mittels selbst gedrehter „partizipativer Videos“. Conversations with the Earth heißt das aktuelle Projekt, das auf der ICTD2010 ausgestellt wird. Indigene Völker aus verschiedenen Teilen der Welt, von Kamerun bis zu den Philippinen, zeigen dort in Videos, wie sich der Klimawandel bei ihnen konkret auswirkt.

Mitgründer Nick Lunch legt Wert darauf, dass man die Teilnehmer behutsam an die Technik heranführe. Er und das Team würden so wenig wie möglich in den Produktionsprozess der Videos eingreifen. Trotzdem ist nicht zu übersehen: Technik, Thematik und Publikum sind aus dem Westen importiert. Die Gründer sind aus Großbritannien, die Videos Teil einer Kampagne für die Klimagipfel in Kopenhagen und Cancún.

Probleme vor Ort definieren

Ihren Zweck – den Westen aufzurütteln und indigenen Völkern eine Stimme im globalen Diskurs zu geben – erfüllen die Insightshare-Videos. Ob sie darüber hinaus bedeutsam für die Gemeinden vor Ort sind, ist eine andere Frage. Nick Lunch verweist darauf, dass sich auf der Plattform mittlerweile eigene Meme entwickeln, gemeinsame Themen, über die sich indigene Völker aus verschiedenen Teilen der Welt austauschen. Zum Beispiel zum Problem der verschobenen Jahreszeiten:

„In manchen Gegenden haben die Menschen noch nie das Wort ‘Klimawandel’ gehört. Aber wenn sie sehen, wie es anderen Völkern geht, erkennen sie oft die eigenen Probleme wieder. In einem Film aus Peru beispielsweise erzählen die Bauern, dass sie nicht mehr wissen, wann sie den Mais anbauen und ernten sollen. Und die Baka in Kamerun haben den Film gesehen und gesagt: ‚Ja, das ist genau das, was hier passiert. Wir wissen auch nicht, wann wir die Bananen pflanzen und ernten sollen. Sie verfaulen am Baum und fallen ab.’“

Ein wenig paradox ist es schon, dass der Diskurs um technologische Entwicklung benachteiligter Weltregionen gerade hier, in den repräsentativen Räumen einer alten englischen Universität südlich von London stattfindet. Gastgeber und Organisator Tim Unwin ist Inhaber des UNESCO-Lehrstuhls für ICT4D. Ihm ist klar, dass Thema und Ort in gewissem Widerspruch stehen. Für einhundert Teilnehmer aus sehr armen Regionen hat er deshalb Stipendien organisiert.

Einer der Stipendiaten ist Poncelet Ileleji aus Gambia. In seinem kleinen westafrikanischen Land ist er ein bunter Hund: ICT-Beauftragter eines YMCA, Präsident der gambischen Information Technology Association, Reisender und Kontakteknüpfer in Sachen e-Education und Internet Governance. Nebenbei fungiert der passionierte Fußballfan als Günter Netzer fürs nationale Fernsehen: „Fußball verbindet. Genauso wie Technologie“, sagt Ileleji.

Gemeinsame Entwicklung

Darum geht es letztlich auch bei dieser Konferenz: Menschen aus allen Teilen der Welt, ob Programmierer, Wissenschaftler, Politiker und Praktiker, noch näher zusammen zu bringen, um gemeinsam zu überlegen, wie man alle, und nicht nur die sogenannten „Entwicklungsländer“, weiterbringen kann. Dass die Zusammenarbeit auch im 21. Jahrhundert immer noch so stark westlich geprägt zu sein scheint, überrascht allerdings.

„Eigentlich kann man nur sich selbst entwickeln“, sagt Geoff Walsham, emeritierter Professor für Management aus Cambridge, nach seiner Keynote.

Während auf der ICTD2010 ein Mentalitätswandel gefordert wird, ist die Praxis schon ein Stück weiter. In ärmeren Regionen entstehen eigene Lösungen – mitunter so innovativ, dass sie weltweit erfolgreich sind.

Eine davon ist das in Kenia entwickelte Aggregationswerkzeug Ushahidi. Mittlerweile wird das Tool, mit dem sich Informationen einfach über SMS, Web oder Twitter auf eine Karte eintragen lassen, weltweit eingesetzt. In Haiti wurden dort Informationen nach dem Erdbeben kartiert und halfen, die Katastrophenhilfe zu koordinieren, in Russland ersetzte das Tool bei den großen Bränden im Sommer Funktionen, die die Behörden vor Ort nicht mehr bewältigen konnten. Und Datenjournalisten und Aktivisten weltweit setzen Ushahidi zur Kartierung ein – in Deutschland wurde so kürzlich die Berichterstattung zum Castor-Transport gemappt.

Dreht sich die Transfer-Richtung?

„Technologie kennt keine Grenzen.“, sagt Erik Hersman, Mitgründer von Ushahidi. „Tools und Technologie, die es heute gibt, sind so niedrigschwellig, dass die Menschen ihre Probleme selbst lösen können“. Es mag nicht in die Schublade passen, doch der rothaarige Mann aus Kenia mit dem breitem US-amerikanischen Akzent spricht als Afrikaner:

„Man sollte weniger überrascht sein über technologische Innovation aus Afrika, als über Leute aus dem Westen, die meinen, sie wüssten, wie man afrikanische Probleme löst.“

Die digitale Spaltung klafft noch tief. Ganz so einfach und günstig wie in den Industrieländern ist die Umsetzung innovativer Ideen in den strukturschwachen Weltregionen nicht. Doch immer mehr Menschen bekommen Zugang zu digitalen Technologien. Mobiltelefone sind der große Renner, und oft kommt man mit ihnen schon ins Netz. Sogar in den Slums surfen junge Menschen schon auf Facebook. Vielleicht sind es bald sie, die neue Lösungen definieren – nicht nur für ihre, sondern auch unsere Probleme?

Auf akademischer Seite entscheidet jedenfalls erstmal weiter das Geld, wo konferiert wird. Die nächste ICTD findet im März 2012 im US-amerikanischen Atlanta statt.


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